Warum klingt Moll traurig? – Die Strebetendenz-Theorie erklärt das Gefühl in der Musik (1/5)

15. April 2013 - 10:03 Uhr

Von Bernd Willimek, Musiktheoretiker, und Daniela Willimek, Dozentin (HfM Karlsruhe)

Wer weiß, wie lange schon Menschen sich das fragen: Wie ist es möglich, dass ein Mollakkord traurig klingen kann? Besteht er doch – physikalisch gesehen – aus nichts anderem als aus schwingender Luft. Die lang ersehnte Lösung dieses Problems bringt die Strebetendenz-Theorie und erhellt damit erstmals das lange Dunkel der musikpsychologischen Forschung. Diese Theorie sagt, dass Musik überhaupt keine Emotionen vermitteln kann, sondern nur Willensvorgänge, mit denen sich der Musikhörer identifiziert. Erst durch den Vorgang der Identifikation erscheinen diese Willensvorgänge als von Emotionen gefärbt. Ein Beispiel: Bei einem Durakkord, in bestimmtem Kontext gespielt, identifiziert sich der Hörer mit dem Willensinhalt "Ja, ich will!". Bei einem Mollakkord dagegen, der in bestimmtem Kontext erscheint, identifiziert sich der Hörer mit dem Willensinhalt "Ich will nicht mehr!".

Bernd & Daniela Willimek

Dieser Willensinhalt "Ich will nicht mehr" kann als traurig oder als wütend erfahren werden, je nachdem, ob ein Mollakkord relativ laut oder leise gespielt wird. Wir unterscheiden hier genauso, wie wir unterscheiden würden, wenn jemand die Worte "Ich will nicht mehr" einmal leise flüsternd und einmal laut schreiend von sich gibt. Solche Identifikationsprozesse gibt es nicht nur in der Musik: Ganz ähnliche Vorgänge kann man beobachten, wenn wir vor dem Fernsehapparat sitzen und uns mit den Willensvorgängen unserer Lieblingsfigur identifizieren. Auch hier erzeugt der Vorgang der Identifikation Emotionen. Da der Umweg der Emotionen über Willensvorgänge in der Musik lange nicht erkannt wurde, scheiterten bislang alle musikpsychologischen und neurologischen Versuche, die Ursache der Emotionen in der Musik zu ergründen.

Wie drückt Musik Willensvorgänge aus?

Die Willensvorgänge in der Musik haben etwas mit dem zu tun, was frühere Musiktheoretiker mit Vorhalt, Leitton oder Strebetendenz bezeichnet hatten. Da aber niemand wusste, wozu solche Phänomene brauchbar sein könnten, fristeten sie lange ein recht unnützes Dasein. Dennoch waren sie bisweilen Gegenstand wissenschaftlicher Forschungen. So sprach der Schweizer Musikwissenschaftler Ernst Kurth (1886 – 1846) von der Wahrnehmung einer gewissen "Zugkraft" zwischen den Tönen. Wenn man diese musikalischen Erscheinungen jedoch gedanklich ins Gegenteil umkehrt, offenbaren sie schnell ihren wahren Zweck. So erhält man genau den Willensinhalt, mit dem sich der Musikhörer identifiziert: Der Ton strebt nicht fort, sondern der Hörer identifiziert sich mit dem Willen, dass der Ton unverändert bleibt.

Die vermeintliche Wahrnehmung einer "Zugkraft" im Ton ist in Wirklichkeit die Identifikation mit einem Willen gegen die Wirkung der vermeintlichen "Zugkraft".

In der Praxis werden diese Vorgänge dann noch etwas komplizierter. So lassen sich auch konkrete Willensinhalte musikalisch darstellen. Die Ursache dieser encodierten Willensprozesse in der Musik wird in der bewusst-unbewussten Wirkung von Sekunden im Obertonbereich vermutet.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang außerdem, dass ein musikalisch erlebter Ton kein physikalischer Ton ist, sondern – wie schon Ernst Kurth sagte – eher etwas vages Unbestimmtes.

Der Nachweis von Emotionen im Klang

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Um die Aussagen der Strebetendenz-Theorie nicht nur physikalisch und durch die Musikliteratur zu belegen, sondern auch empirisch, entwickelte Bernd Willimek zusammen mit seiner Frau Daniela, Dozentin an der Hochschule für Musik Karlsruhe, einen musikalischen Präferenztest (Rocky-Test), mit dem eine internationale Studie initiiert wurde. Die Ergebnisse dieser Studie zeigten, dass die bestimmte Harmonien enthalten, bei der Auswahl gegenüber anderen Kadenzen eindeutig im Sinne der Strebetendenz-Theorie bevorzugt werden. So entschieden sich die Probanden in einer auffallend hohen Übereinstimmung von über 86 Prozent für dieselben Musikbeispiele. Die Testreihen wurden schwerpunktmäßig an Musikgymnasien, aber auch an anderen Schultypen und Auslandsschulen in Europa, Asien, Australien sowie Nord-und Südamerika mit über 2.100 Probanden durchgeführt. Zu den prominentesten Teilnehmern zählen die Regensburger Domspatzen und die Wiener Sängerknaben.

In einem weiteren Test, dem sogenannten Basis-Test, konnte gezeigt werden, dass Probanden bei der Zuordnung von Harmonien und emotionalen Begriffen zu einem hohen Prozentsatz übereinstimmten. Auch bei diesem Test war die Übereinstimmung in der Wahl des präferierten Beispiels mit über 92 Prozent auffallend hoch. Der Basis-Test fragt die Präferenzen der Probanden auf der Basis sparsamster Verwendung musikalischer Mittel ab. So wird beispielsweise der Parameter Melodik auf ein Minimum reduziert, fehlt zuweilen ganz. Manche Musikbeispiele bestehen aus bloßen Repetitionen von Akkorden oder aus kurzen Tonfolgen. Inhalt und Procedere der beiden Tests sind ausführlich beschrieben in der Publikation "Musik und Emotionen – Studien zur Strebetendenz-Theorie".

Gesamt-Trefferquote beim Rocky-Test

Bei der Zuordnung von Musik und Emotionen zeigten die Ergebnisse des Rocky-Tests eindeutige Präferenzen bestimmter Harmonien. Insgesamt ergab sich eine Trefferquote von über 86 Prozent. Im Einzelnen wurden folgende Zuordnungen von Harmonien und emotionalen Inhalten gewertet:

Übermäßiger Akkord: Wunder; Tonika-Dominante: Bewegung; Ganztonleiter: Schwerelosigkeit; verminderter Septakkord: Verzweiflung; äolisches Moll: Mut; Sixte ajoutée in Dur: Geborgenheit; Subdominante mit großer Septime: Wehmut; Sixte ajoutée in Moll: Einsamkeit.

Die einzelnen Trefferquoten entsprechen dem obenstehenden Diagramm.

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Die Fortsetzung des Artikels erscheint am Dienstag, 16. April 2013.

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