Am 23. Oktober 2011 wurde in Berlin die Stiftung Bundesjugendorchester gegründet. Aus diesem Anlass spielten die jungen Musiker unter der Leitung von Sir Simon Rattle die vollständige 9. Sinfonie von Anton Bruckner (1824-1896). Von dem Werk hört man im Konzert meist nur die ersten drei Sätze. Denn Bruckners Manuskripte zum Finale sind weltweit verstreut.
Ein Team um den italienischen Dirigenten und Komponisten Nicola Samale arbeitet seit über 25 Jahren daran, den 4. Satz so gut wie möglich aufführbar zu machen. Die neueste Fassung dieser Arbeit spielte das Bundesjugendorchester nun als deutsche Erstaufführung. Maßgeblich als Mit-Herausgeber beteiligt ist der Musikforscher, Publizist und Dirigent Dr. Benjamin-Gunnar Cohrs.
Nach dem Konzert gab der Bruckner-Forscher dem Nachrichtenmagazin musik heute das folgende Interview:
musik heute: Wie kam es zu dem Konzert?
Benjamin-Gunnar Cohrs: Zunächst einmal bin ich Simon Rattle dankbar, dass er für sein Sonderprojekt mit dem Bundesjugendorchester überhaupt die komplettierte Neunte ausgewählt hat! Ich kenne ihn persönlich bereits seit einem Auftritt beim Bremer Musikfest vor über 15 Jahren. Der Fassung von 1992 stand er aus im Nachhinein verständlichen Gründen skeptisch gegenüber. Ich habe ihn über unsere fortgesetzten Bemühungen jedoch stets auf dem Laufenden gehalten.
Den Ausschlag für seine Entscheidung gab vermutlich die sehr erfolgreiche Aufführung der revidierten Fassung durch Daniel Harding und das schwedische Rundfunkorchester 2007 in Stockholm. Einige Zeit später bekam ich von Rattle eine sehr nette Mail, in der er schrieb, er sei nunmehr zu dem Schluss gekommen, dass unser "Stück plastischer Chirurgie" es verdiene, aufgeführt und besser verstanden zu werden.
musik heute: Und wie hat sich das Bundesjugendorchester der Sinfonie genähert?
Benjamin-Gunnar Cohrs: Es hat sich mit großer Begeisterung auf das schwere Werk gestürzt und insgesamt eine gute Woche daran gearbeitet. Ich durfte das praktisch von Anfang an miterleben, da mich die Projektleitung des Orchesters eingeladen hatte, dem BJO in einer Werkstatt-Probe das Finale vorzustellen. Zu Beginn der Probenphase hatte ich daraufhin einen irrsinnig spannenden, schönen Abend mit diesen jungen Musikerinnen und Musikern: Erst haben wir aus dem Manuskript das von mir dafür neu eingerichtete Fragment gespielt, mit einigen Erläuterungen, und im Anschluss daran die Komplettierung.
Es ist übrigens sehr schade, dass dies aus organisatorischen Gründen nicht auch als öffentliche Veranstaltung möglich war. Ich habe selbst solche Werkstattkonzerte früher schon in Tokyo und Düsseldorf dirigieren dürfen. Es war für das Publikum immer ein besonderer Gewinn, aus dem hörenden Vergleich zu erschließen, was von Bruckner überlebt hat und was hinzugefügt wurde, um ein provisorisches Ganzes zu formen.
musik heute: Die jungen Musiker haben also mit Ihnen nicht nur geprobt, sondern auch etwas über die Entstehung des vierten Satzes gelernt?
Benjamin-Gunnar Cohrs: Ja, dabei waren sie ungemein offen und interessiert! Wir haben nach der Probe öffentlich darüber diskutiert und im kleineren Kreis bis tief in die Nacht hinein darüber gesprochen. Für Simon Rattle muss es besonders faszinierend gewesen sein, dass er mit diesem Orchester praktisch bei Null anfangen konnte. Andere Orchester haben ja eine bestimmte Art und Weise, ihren Bruckner zu spielen und möglicherweise auch Vorurteile gegen den Finalsatz. Das gibt es hier nicht – wenn man einmal von den Profi-Orchester-Musikern absieht, die die einzelnen Gruppen des Orchesters vorbereitet haben und dabei natürlich auch ihre eigene Erfahrung mit Bruckner haben einfließen lassen.
musik heute: Für Bruckners letzte Sinfonie war es also ein großer Vorteil, dass sie von einem so jungen Orchester aufgeführt wurde?
Benjamin-Gunnar Cohrs: Genau, denn das BJO hat sich ohne Vorurteile die Sinfonie als viersätziges Ganzes erarbeiten können. Meinem Eindruck nach waren die Musikerinnen und Musiker vom Finale sogar besonders begeistert. Auch nach dem Konzert wurde ich von vielen entsprechend angesprochen. Da ich nun praktisch die erste Tutti-Probe dirigieren durfte, ist es für mich natürlich noch leichter, das Ergebnis zu würdigen, das Simon Rattle mit diesem Konzert erzielt hat: Alles in allem ein echtes Wunder!
musik heute: Das ist ein großes Lob. Haben Sie wirklich nichts auszusetzen?
Benjamin-Gunnar Cohrs: Es gab zwar an einigen Stellen vom Publikum sicher kaum bemerkte, winzige Wackeleien. Das ist aber nichts, was nicht auch professionellen Orchestern passieren würde. Vielleicht hätte sich das Orchester allenfalls noch mehr als eine Aufführung gewünscht: Es ist immer ein bisschen schade, wenn man sich etwas eine Woche lang hart erarbeitet und dann nur ein Konzert hat, wie ich aus eigener Erfahrung weiß.
Doch abgesehen von diesem kleinen Wermutstropfen kam, glaube ich, die Begeisterung des Orchesters im Konzert fantastisch herüber. Und den Finalsatz habe ich auch von Profiorchestern selten so gut und überzeugend gehört! Dies ist, glaube ich, die wichtigste Erfahrung, die das Mitwirken im BJO vermittelt: Man darf auch später als Berufsmusiker einfach nie die musikalische Hingabe und Leidenschaft verlieren.
In vielen Profi-Orchestern herrschen ja leider oft seelenlose Routine, mangelnde Risikobereitschaft und das Primat der bloßen Fehlervermeidung. Deshalb lassen einen viele Konzerte oft so merkwürdig kalt. Umso wichtiger ist die hier auf den Weg gebrachte Stiftung zur Zukunftssicherung des Bundesjugendorchesters. Auch wenn es nicht einer gewissen Ironie entbehrt, dass aus diesem Anlass ausgerechnet Bruckners mit Leben und Tod befasste, Fragment gebliebene Neunte erklang. Und dies vor ausverkauftem Haus, was für dieses Werk gar nicht selbstverständlich ist.
musik heute: Wagen Sie einen Blick in die Zukunft?
Benjamin-Gunnar Cohrs: Persönlich wünsche ich mir natürlich, dass diese Aufführung des Finales ebenso wie die im Februar 2012 geplante Serie von Aufführungen der Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle auch neues Interesse an Bruckners eigenen Absichten mit der Neunten erwecken könnte. (Immerhin: Auch die Einführungsveranstaltung war bis auf den letzten Platz gefüllt.) Doch wenn sich junge Musikerinnen und Musiker wie im BJO die aufgebrachte Begeisterung auch in ihren späteren Profi-Jahren zu bewahren vermögen, ist mir um die Zukunft der Sinfonieorchester und der von ihnen gespielten Musik nicht bang – deshalb sind solche Orchester so ungemein wichtig.
(Die Fragen stellte Wieland Aschinger.)