Berlin – Ein Opernhaus als Seismograph der Einheit: Kaum eine Kulturinstitution der deutschen Hauptstadt hat die Wende so stark gespürt wie die Berliner Staatsoper. Am 25. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung bringen Generalmusikdirektor Daniel Barenboim und Intendant Jürgen Flimm "Die Meistersinger von Nürnberg" auf die Bühne – "eine sehr deutsche Oper", wie der Dirigent (72) gesteht.
Doch passt Richard Wagner (1813-1883), Adolf Hitlers Lieblingskomponist, zum bundesdeutschen Nationalfeiertag? "Die Nazis haben zwar versucht, das Werk für sich zu instrumentalisieren. Aber das lässt sich nicht mit dem Text begründen", sagt der Dirigent und Pianist. Das Werk stehe zwar für das, was man "deutsche Werte" nennt. "Aber ich glaube nicht an Werte, die nur für ein Land oder eine Kultur gelten. In den "Meistersingern" haben wir es mit menschlichen Werten zu tun. Und die hat man – oder eben nicht."
Barenboim dirigierte die Oper auch schon in Bayreuth, Wolfgang Wagner führte damals Regie – die letzte Inszenierung des Bayreuth-Patriarchen vor seinem Tod. Richard Wagner habe die Musik in eine neue Richtung entwickelt, sagt Barenboim. Natürlich habe es auch "diesen schrecklichen Antisemiten und insofern unerträglichen Menschen" gegeben. "Aber musikalisch gibt es wenige, die eine vergleichbare Bedeutung haben, dazu zählen Bach, Beethoven, Debussy…"
Fast ein Vierteljahrhundert ist der argentinisch-israelische Dirigent und Pianist jetzt an der Spitze der Berliner Staatsoper. Barenboim hat seit 1992 das Opernhaus durch viele Höhen und einige Untiefen geführt. Schließungs- und Fusionsdrohungen, der Skandal um den Umbau des historischen Hauses Unter den Linden, der Umzug in das Ausweichquartier im Schiller Theater – die Staatsoper und das Orchester, die Staatskapelle Berlin, seien "ein Laboratorium der Einheit".
"Am Anfang hatte ich einen kleinen Schock"
Matthias Glander, Solo-Klarinettist der Staatskapelle, nennt die Begegnung mit dem argentinisch-israelischen Dirigenten "einen Glücksfall". Nach dem Mauerfall sei die Zukunft der Staatsoper ungewiss gewesen. Barenboim hatte gerade die Pariser Bastille-Oper im Streit verlassen, Staatskapellen-Chef Otmar Suitner war erkrankt. "Ein großes Opernhaus ohne Chefdirigenten, ein großer Dirigent ohne Opernhaus." Die Musiker sammelten Unterschriften und legten sie dem damaligen Kultursenator Ulrich Roloff-Momin vor. Es kam zusammen, was zusammengehörte, sagt Glander.
Für Barenboim stand am Anfang ein Aha-Erlebnis. "Als ich die Staatskapelle zum ersten Mal hörte, hatte ich einen kleinen Schock. Denn ich hörte den Klang des Israel Philharmonic Orchestra von Anfang der 50er Jahre, das damals noch ironischerweise Palestine Philharmonic hieß", berichtet Barenboim. Das Orchester war 1936 von mitteleuropäischen Juden gegründet worden. "Da die Staatskapelle anders als zum Beispiel westeuropäische Orchester seit 1933 keinen Außeneinflüssen mehr ausgesetzt war, hatte sie sich auch diesen mitteleuropäischen Klang bewahrt."
Der Dirigent fühlte sich schnell in die deutsch-deutschen Befindlichkeiten ein. "Wir waren eine der ersten Institutionen, die nach dem Mauerfall Menschen aus dem Westen aufgenommen hat", sagt er. "Allerdings haben wir nie gefragt: Sind Sie vom Westen oder aus dem Osten?".
Vor der Wiedervereinigung war die Staatskapelle das bestbezahlte Orchester der DDR. Mit der Wiedervereinigung sei die Staatskapelle im bundesweiten Gehaltsranking auf Platz 23 zurückgefallen, sagt Barenboim. Der Dirigent ließ seine Muskeln spielen. Im kulturpolitischen Kampf der Nachwendejahre schaffte er es mit Hilfe der Kanzler Gerhard Schröder und Angela Merkel, dem Orchester zusätzliche Millionen vom Bund zu sichern und damit konkurrenzfähig zu bleiben. Das Orchester hat es ihm gedankt. Barenboim ist Ehren-Chefdirigent auf Lebenszeit, sein Vertrag geht bis 2022, danach will er um weitere 20 Jahre verlängern, wie er immer wieder im Scherz sagt.
(Von Esteban Engel, dpa/MH)
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