Dresden – Den Eintritt ins Rentenalter hat der Dirigent Hartmut Haenchen schon vor zehn Jahren auf unbestimmte Zeit verschoben. Damals wünschte er sich als 65-Jähriger nur zwei Dinge: "Noch viele musikalische Einsichten und Gesundheit, um diese zu verwirklichen." Mit 75 hält der gebürtige Dresdner mit internationaler Karriere daran fest, auch wenn er es fortan "ein bisschen ruhiger" angehen will: "Aber so genau kann man das in meinem Beruf nicht steuern. Im Moment habe ich eine ruhige Phase", sagte der Maestro kurz vor seinem Geburtstag am (heutigen) Mittwoch. Aber schon bald werde es mit diversen Opern-Projekten und einem Bruckner-Zyklus wieder anders sein.
An neuen musikalischen Einsichten hat es Haenchen in den vergangenen Jahren nicht gemangelt. 2016 übernahm er äußerst kurzfristig die musikalische Leitung für den "Parsifal" der Bayreuther Festspiele. Nur zwei Orchesterproben blieben ihm, um seine Klangvorstellungen umzusetzen. Haenchen erhielt dafür sehr gute Noten. 2017 konnte er die Uraufführungsstimmen dieser Wagner-Oper in Bayreuth einsehen. Daraufhin stellte er neues Orchestermaterial her: "Aus dem Original ist deutlich ablesbar, was Wagner in der Probenphase noch verändert hat. Das ist später bei der Drucklegung leider eliminiert worden."
Wenn Haenchen nun den "Parsifal" dirigiert, erfüllt er quasi den letzten Willen Wagners. Ohnehin hat er sich stets den Komponisten und ihrem Werk verpflichtet gefühlt. Deshalb ärgert ihn an einigen Kollegen, dass sie weniger als Sachwalter der Musik auftreten, sondern ihre Energie lieber in die Selbstdarstellung stecken: "Meine Hoffnung ist, dass sich am Ende Qualität durchsetzt. Und dass viele Menschen im Publikum das auch noch wahrnehmen können." Um ein solches Urteilsvermögen zu erlangen, brauche man freilich selbst eine gute Bildung. Deshalb seien Diskussionen um eine Kürzung des Musikunterrichtes wie jetzt in Sachsen fehl am Platz.
Haenchen gilt als musikalischer Weltbürger. Ein Journalist beschrieb ihn mal als einen, "der nie richtig wegging aus dem Osten und nie richtig ankam im Westen". Zumindest in den Niederlanden hat sich Haenchen mit seiner Familie wohl gefühlt, obwohl der Beginn als Chefdirigent der Niederländischen Philharmonie und Generaldirektor der Oper in Amsterdam 1986 kein leichter war. In den Medien gab es anfangs auch Stimmung gegen ihn. Warum gerade ein Deutscher zwei so wichtige Positionen im Musikleben der Niederlanden einnehmen sollte, leuchtete nicht allen ein. Als er 1996 zum Ritter im Orden vom Niederländischen Löwen ernannt wurde, war das Eis schon gebrochen.
Bei allen internationalen Verpflichtungen hat Haenchen Dresden immer die Treue gehalten. Hier leitete er zwischen 2003 und 2008 die Musikfestspiele, hier hat er sich in die Debatten um Kunst und umstrittene Architektur eingebracht. Dass seine Heimatstadt durch Umtriebe von Pegida in Verruf geriet, hat ihn zuletzt des öfteren leiden lassen. "Ich war in den vergangenen Monaten viel in Tokio, Paris und auch Mailand unterwegs. Überall werde ich auf Dresden angesprochen, aber im negativen Sinn. Man nimmt Dresden nicht mehr wie früher üblich zuerst als Kunst- und Kulturstadt wahr", ärgert sich der Dirigent.
Im Mai musiziert Haenchen in Dresden mit der Königlichen Kapelle Kopenhagen erstmals im neuen Saal des Kulturpalastes. Das Orchester liegt ihm besonders am Herzen. Bei ihm spüre er alles andere als nordische Kühle, sagt der Künstler. Wärme müsse auch ein Dirigent ausstrahlen, genauso wie ein gesundes Maß an Strenge. "Alle Versuche, ein demokratisches Orchester zu gründen, sind bisher gescheitert", argumentiert der Maestro, der eher den Titel Kapellmeister mag: "Er umschreibt die Tätigkeit so, wie ich sie mir vorstelle. Mein Instrument ist das Orchester. Auf dem muss ich spielen können." Das möchte Haenchen noch möglichst lange.
An seinem 75. Geburtstag will er ausnahmsweise mal nicht dirigieren. An diesem Tag freut sich Haenchen vor allem auf ein Ständchen seiner Familie.
(Von Jörg Schurig, dpa/MH)
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