Hamburg – Mary Shelleys berühmten Roman "Frankenstein" braucht man nicht gelesen zu haben, um zu wissen, worum es geht, er gehört zum erzählerischen Gemeingut der westlichen Gesellschaft: Ein ehrgeiziger junger Wissenschaftler erschafft im Labor ein lebendes Wesen, das im fatalen Spiel der Kräfte bald die Oberhand gewinnen wird. Jetzt hat die Hamburgische Staatsoper den Klassiker des Grusel-Genres als Oper herausgebracht. Regie bei der Produktion, die in der Kulturfabrik Kampnagel gezeigt wird und am Sonntag Uraufführung hatte, führte Philipp Stölzl, Musik und Libretto hat Jan Dvorák geschrieben.
Filmmusikreife, süffige Streichermelodien wechseln bei Dvorák ab mit hauchzarten Klangflächen oder gemäßigt modernen, rhythmisch strukturierten Passagen. Zugleich prägt die Musik die entschieden psychologische Sichtweise auf das Sujet mit. Diese "Frankenstein"-Oper ist kein bluttriefender Grusel-Schmachtfetzen. Stattdessen nimmt das Stück immer wieder die Perspektive der künstlich erschaffenen Kreatur ein, der sich die Schauspielerin Catrin Striebeck in einer Sprechrolle bis in die feinste Regung anverwandelt: Wegen seiner angsteinflößenden Hässlichkeit von den Menschen abgelehnt, leidet das Geschöpf an der eigenen Einsamkeit.
Wenn entsetzte Menschen mit Schwertern und Äxten auf das sogenannte Monster losgehen, das sich auf der Suche nach Gemeinschaft mit einem blinden Alten angefreundet hat, dann gefriert die Prügelszene zwischendurch zu extremer Zeitlupe, während der Dirigent Johannes Harneit und die Instrumentalisten der Hochschule für Musik und Theater Hamburg zwischen akustischem Schlachtengetümmel und melancholisch-zarten Klängen wechseln und so die Aufmerksamkeit auf die erschütternde Verwirrung und wachsende Verzweiflung des Wesens lenken. Erst die Reaktion der Umwelt lässt es gewalttätig und gefährlich werden, diese Kernthese macht auch die souveräne Regie überdeutlich.
Die Figur des Monsters ist alles andere als abstoßend gezeichnet. Marius Kob hat eine 2,5 Meter hohe Puppe entworfen, die von drei Puppenspielern geführt wird. Dank der raffinierten Lichtregie verschwinden die Spieler förmlich in der Figur. Oft wirkt das Wesen durchscheinend wie ein Schmetterling. Seine Körpersprache wird ihm also von außen eingegeben, eine kluge Parallele zur Tragik der Romanfigur, die ihre Persönlichkeit ja auch dem Schöpfungsakt eines leichtfertigen Wissenschaftlers verdankt. Umso anrührender ist es, wie unmittelbar die Bewegungen des Monsters dessen Unglück und Ohnmacht gegenüber der Feindseligkeit ausdrücken, die ihm überall entgegenschlägt.
Es dauert ein wenig, bis der Betrachter sich auf den langsamen Erzählrhythmus eingeschwungen hat. Ein Maschendrahtverhau umgibt die Bühne. Das schafft unweigerlich eine Distanz, die das suggestive, auf einfache Mittel reduzierte Bühnenbild von Stölzl und Heike Vollmer nicht immer aufheben kann. Vor allem aber hätten der Bühnenfassung ein paar Episoden weniger gutgetan. Ermüdend wirken die ausgedehnten, in einem musikalisch ereignislosen Sprechgesang gehaltenen Dialogszenen. Der Kontrast zur furiosen Darbietung von Catrin Striebeck könnte schärfer nicht sein.
Die Sängerriege entschädigt dafür mit hohem stimmlichen Niveau und exzellenter Textverständlichkeit. Viktor Rud gibt den Frankenstein mit wohlklingendem Bariton und steigert, wenn sich Frankenstein nach dem Tod seiner Braut auf die rastlose und tödlich endende Jagd nach dem Monster begibt, zusehends die Spannung. Das Premierenpublikum quittierte den unerwartet nachdenklichen Opernabend am Sonntag mit anhaltendem Jubel, besonders für die vier Darsteller des Monsters.
(Von Julia Tann, dpa/MH)
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