Philharmonie, Großer Saal, 20:00 Uhr. Auf dem Programm stand eine Symphonie von Anton Bruckner (1824-1896). Die Notenpulte waren aufgebaut, an der Seite der Bühne stimmten die drei Harfenistinnen ihre Instrumente. Dann marschierten die Musiker ein, in langen, schwarzen Kleidern und Anzügen mit Fliege – nicht in Jeans und Turnschuhen, wie man es bei 14- bis 19-Jährigen erwarten könnte. Es hätte also ein ganz normales klassisches Konzert werden können, wie es heute vielfach in der Kritik steht. Doch dies wurde ein ganz außergewöhnlicher Abend.
Das Besondere an diesem Konzert wurde schon in dem Moment deutlich, als die Musiker die Bühne betraten. Das Publikum hieß die Künstler mit einem Applaus willkommen, der nicht verstummte, bevor der letzte Musiker seinen Platz erreicht und das Orchester sich komplett aufgestellt hatte. Diesen Respekt erwies den Künstlern ein überwiegend junges Publikum. Der Altersdurchschnitt war sichtbar niedriger als üblich, unter den Zuhörern waren auch einige Schulklassen.
Die 8. Symphonie von Anton Bruckner ist ein wahrhaft monumentales Werk für fast 100 Instrumente. Sie ist gewaltig in ihrer Komplexität und Tiefe, ein Berg von Klängen, Melodien und Strukturen. Und mit über 80 Minuten eine der längsten Symphonien. Manch gestandene Dirigenten und Orchester trauen sich nicht daran. Denn so wunderbar die Komposition erdacht wurde, so fürchterlich kann die Interpretation misslingen. Doch dem Bundesjugendorchester gelang der so schwierige Balanceakt zwischen der deutlichen Präsenz jeder einzelnen Stimme und dem gemeinsamen Orchesterklang. Und nicht nur das.
In kaum hörbarem Pianissimo beginnend, steigerte sich das Orchester in sorgfältig ausgearbeiteter Dynamik. Binnen Kürze nahm es das ganze Werk in Besitz. Kraftvoll zupackend bauten die jungen Musiker eine Spannung auf, die sich ebenso auf das Publikum übertrug. Hochkonzentriert und von den Künstlern regelrecht vereinnahmt verfolgte es die Musik. Und am Ende des ersten Satzes herrschte … Stille. Erst langsam löste sich die Spannung, fiel manchem Zuhörer ein, dass man mal kurz husten könnte. Doch schon mit Beginn des zweiten Satzes gab wieder das Orchester den Ton an.
Und die gemeinsame Spannung zwischen Musikern und Publikum steigerte sich sogar noch. Selbstbewusst zupackend präsentierte das Orchester das Scherzo. Tiefgründig und berührend formte es das Adagio. Und immer wieder hielt die Konzentration zwischen den Sätzen an, wie es die Berliner Philharmonie und andere Konzertsäle nur in ihren besten Momenten erleben.
Wie ein Scheinwerfer, der plötzlich das Dunkel zerreißt, stieg das Orchester in den vierten Satz ein. Das Finale verlangt noch einmal alle Kräfte, hat es doch die Intensität und selbst fast den Umfang einer ganzen Symphonie. Die Musiker bauten das Klanggebirge unnachgiebig auf, schichteten Phrase auf Phrase, nahmen immer wieder neuen Anlauf, steigerten sich unerbittlich. Es gab nur noch die Musik, der Rest der Welt war längst vergessen, Gänsehaut und feuchte Augen inklusive.
Ein letztes Ritenuto und das Orchester vereinte sich zum Schlussakkord. Wohltuend konnte der Ton im Saal der Philharmonie verklingen. Allmählich kehrten Musiker und Publikum wieder in das Hier und Jetzt zurück. Kein Wettrennen um das erste Klatschen zerriss die Spannung, wie man es so oft beim normalen Klassik-Publikum erlebt. Aber dann brach ein Sturm der ehrlichen Begeisterung los. Mit frenetischem Applaus und "Bravo"-Rufen feierten die Zuhörer das Orchester, das sie in eine fantastische Klangwelt entführt hatte. Fast zehn Mal musste Dirigent Herbert Bäumer wieder aufs Podium kommen, die einzelnen Instrumentengruppen bekamen zusätzlichen Applaus.
Das konnten aber einige der älteren Herrschaften aus dem Publikum nicht mehr erleben. Denn sie waren schon auf dem zweiten üblichen "Wettrennen", nämlich dem zur Garderobe. Die überwiegende Mehrheit der Zuhörer kam hingegen noch in den Genuss einer Zugabe. Mit einem Choralvorspiel von Johann Sebastian Bach in der Bearbeitung von Arnold Schönberg präsentierte das Bundesjugendorchester noch einmal einen ganz anderen Klangcharakter.
Mit dem Konzert endete eine Tournee, bei der das Orchester an jedem Abend in einer anderen Stadt gespielt hat. Nach dem Schlussakkord in Berlin waren die Musiker "erleichtert und ein bisschen traurig", wie Konzertmeisterin Julia Knapp (17) dem Nachrichtenmagazin musik heute sagte. (Das vollständige Interview steht hier.) Auch die Zuhörer standen noch lange vor dem Saal und besprachen das Gehörte. Einige sangen sogar die eben gehörten Melodien. "Wir fanden es total toll", erklärten Niklas, Charly und Marcel, die von ihrer Schule aus zur Philharmonie gekommen waren. "Es war Wandertag mit mehreren Angeboten und wir haben uns ganz bewusst für dieses Konzert entschieden", sagten die Schüler einer 11. Klasse in Zossen.
Wenn es eine Krise der klassischen Musik oder des klassischen Konzertbetriebes gibt, haben die Mitglieder des Bundesjugendorchesters und ihre Zuhörer an diesem Abend das ganze Gegenteil gezeigt: Engagement, ansteckende Begeisterung und gegenseitige Motivation.
Im August erarbeitet das Bundesjugendorchester unter anderem die 6. Symphonie von Ludwig van Beethoven und ein Auftragswerk der Internationalen Bachakademie Stuttgart. Mit Anton Bruckner beschäftigen sich die Musiker erneut im Oktober. Dann werden sie unter der Leitung von Sir Simon Rattle die 9. Symphonie einstudieren und in der Berliner Philharmonie aufführen.
(wa)