Der Dirigent John Axelrod wurde in Amerika geboren, genauer gesagt in Houston, Texas, USA. Aber da er seit über zehn Jahren in Europa lebt, nennt er sich inzwischen selbst einen "Ameropäer". Bereits im Alter von 16 hatte er für ein paar Monate Unterricht mit keinem Geringeren als Leonard Bernstein. Er studierte Klavier, Komposition und Dirigieren an der Harvard University und in St. Petersburg. Heute spielt John Axelrod mit den besten Orchestern der Welt, vom Los Angeles und dem London Philharmonic Orchestra bis zum Gürzenich Orchester Köln und den Dresdner Philharmonikern. Nachdem er fünf Jahre lang Chefdirigent des Luzerner Sinfonieorchesters war, übernahm er diese Position 2009 beim Orchestre National des Pays de la Loire in Frankreich.
Während seines letzten Aufenthalts in Berlin, bei dem er das Konzerthaus-Orchester dirigierte, gab John Axelrod dem Nachrichtenmagazin musik heute das folgende Interview. (click here for the english version)
musik heute: In der Vergangenheit haben manche klassische Musiker auf Filmmusik herabgeblickt.
John Axelrod: Das tun sie immer noch. Weil Filmmusik mehr Geld einbringt und weil sie populärer ist. Und in den Augen vieler Leute ist "populär" gleichbedeutend mit "nicht ernsthaft". Das Boston Symphony Orchester finanziert mit dem John-Williams-Programm in Tanglewood seine klassischen Programme. Denn mit John Williams kann man Tickets für 20.000 Menschen zu verkaufen. Wenn etwas populär ist, heißt das, dass es schlecht ist oder nicht ernst?
Aus irgendeinem Grund neigen wir in der Welt der klassischen Musik dazu, Beliebtes und Erfolgreiches als nicht ernst zu betrachten. Manche Menschen lehnen die Musik anderer auch einfach ab, um ihre eigene Position zu verteidigen. Viele Leute in diesem kleinen Marktanteil von 2,5 Prozent sind ganz froh, wenn es bei diesen 2,5 Prozent bleibt. Denn sie haben ihren Platz in diesem Segment und wollen gar nichts daran ändern. Sie sind große Fische in einem kleinen Teich.
musik heute: Das heißt, es ist gar nicht eine Frage der Qualität?
John Axelrod: Überhaupt nicht! Sehen Sie, manche Filmmusik, die heute komponiert wird, ist viel komplizierter als das, was einige klassische Komponisten für den Konzertsaal schreiben. Wenn man sich Horrorfilm-Soundtracks anhört, dann sind die viel atonaler und surrealistischer als Arnold Schönberg und Anton Webern und Alban Berg.
musik heute: Also hat klassische Musik zur Filmmusik geführt?
John Axelrod: Die meisten Menschen kennen die Erste und die Zweite Wiener Schule der Komposition. Die Erste Schule der klassischen Komposition, für die Wien immer in Erinnerung bleiben wird, ist der Zeitraum von Mozart über Beethoven bis Schubert. Dann kam die Spätromantik, das Fin-de-Siècle und die Zwölftontechnik, woraus die Zweite Schule wurde. Und ich denke, dass Filmmusik die Dritte Schule der Wiener Komposition ist. Denn ohne Korngold und Steiner und Rozsa wäre der Hollywood-Sound nicht entstanden.
Also wenn man sagt, dass es ohne Beethoven und Schubert keinen Gustav Mahler und Richard Strauss gegeben hätte und ohne Mahler / Strauss keinen Arnold Schönberg, Anton Webern und Alban Berg, dann kann man sagen, dass es ohne Strauss / Mahler und Schönberg / Webern / Berg keinen Erich Wolfgang Korngold gäbe, keinen Max Steiner, Miklós Rózsa, Bernard Herrmann, Franz Waxman, Alfred Newman und all die anderen Film-Komponisten, die in den 30er und 40er Jahren herauskamen.
musik heute: Einige dieser Namen in Hollywood klingen deutsch.
John Axelrod: Es war schrecklich für Deutschland und Österreich, durch den Nationalsozialismus und Faschismus so viele großartige Komponisten zu verlieren. Viele der begabtesten Komponisten starben in Auschwitz oder wurden in Theresienstadt eingesperrt. Und viele von ihnen emigrierten, wie es Korngold, Schönberg und zahlreiche andere taten. Ohne dieses politische Drama in Europa gäbe es den Hollywood-Sound nicht.
Wenn wir Filmmusik außen vor lassen, wenn wir sagen: "Nein, Filmmusik existiert nur in einer Art populärem Medium", dann weigern wir uns, das Vermächtnis, das kollektive Erbe, von dem wir alle profitieren, zu akzeptieren. Und man kann gewiss nicht sagen, dass Korngold als Komponist weniger virtuos oder ernsthaft war als Strauss oder Alexander Zemlinsky. Wäre er in Wien geblieben, hätte er vielleicht eher Avantgarde-Musik geschrieben. Aber da er nach Hollywood ging, gab es für ihn keinen Druck, mit dem Avantgardismus dieser Zeit in Europa anzufangen. Er schrieb für Errol-Flynn-Filme. Die mussten nach Strauss klingen, mit Fanfaren, manchmal wie die "Alpensinfonie" oder wie "Don Quixote".
Das Gleiche gilt für Steiner, der ein fantastischer Komponist war, der Großvater der Filmmusik. Deshalb gibt es, dank der Idee von Dr. Sandra Tomek, bei der "Hollywood in Vienna" Filmmusik-Gala im dortigen Konzerthaus den Steiner-Preis. Oder nehmen Sie Rozsas Kompositionen. Seine Ben-Hur Fanfare klingt wie aus einer Beethoven-Sinfonie oder sogar einem Wagner-Marsch. Und sie alle beeinflussen noch immer die Komponisten, die heute arbeiten.
Man kann sagen, dass John Williams nicht nur einer der erfolgreichsten lebenden Komponisten ist, sondern auch einer der begabtesten hinsichtlich der Orchestrierung und Struktur. Vielleicht macht er keine Avantgarde, so wie Jörg Widmann oder Wolfgang Rihm oder Pascal Dusapin und all die anderen. Deren Musik dirigiere ich ja auch. Aber was ich an John Williams' Musik liebe ist, dass sie genau das ist, was sie sein soll: wirksam. Wirksame Musik. Nicht nur: "Äh, was versucht er mit dieser Musik zu sagen?". Sie mag leicht zu lesen sein, aber sie ist wirksam. Wirksam zu spielen, wirksam zu hören und auch wirksam für das Bild auf der Leinwand. Denn wir dürfen nicht vergessen: Filmmusik soll dem Bild auf der Leinwand dienen. Es gibt eine Menge Musik, die geschnitten wurde. Vielleicht ist das der Grund, warum Bernstein nur einen einzigen Film-Soundtrack geschrieben hat, "On the Waterfront" ("Die Faust im Nacken"). Er wollte nicht, dass seine Musik geschnitten wird. Und eine Menge Musik ist heute schwer zu finden, weil die Studios die Partituren weggeworfen haben, als sie sie nicht mehr brauchten.
musik heute: Sie mögen Filmmusik nicht nur und kennen ihre Ursprünge, sondern führen sie auch selbst auf. Ist das nicht ein gewisses Risiko für einen klassischen Dirigenten?
John Axelrod: Wenn ich erst Mahler und Beethoven und Schumann dirigiere und dann John Williams, bestand schon die Gefahr, dass die Leute nicht mehr verstehen, was für ein Dirigent ich bin. Und das ist wirklich passiert. Zum Beispiel habe ich in einem Jahr einen Schumann- und einen Beethoven-Zyklus gespielt, war auf einer Tour mit Lang Lang und Herbie Hancock und habe die Filmmusik-Gala in Wien dirigiert. Und die Leute in der Musikbranche haben sich gefragt: "Spielt er nun populäre oder ernste Klassik? Macht er Jazz oder macht er Klassik?" Ich sage es noch einmal: es gibt gewisse Leute in der Branche, die Musiker gerne in Schubladen werfen. Die sagen also: "Oh nein, er ist Amerikaner – der erste Punkt gegen ihn. Punkt 2, er dirigiert Filmmusik. Punkt 3, er macht ein Jazzkonzert mit Herbie Hancock und Punkt 4…" Die Wahrheit ist, wie mein Lehrer Leonard Bernstein mache ich das alles. Ich bin ein 360-Grad-Künstler.
musik heute: Deshalb haben Sie auch nicht gezögert, 2009 Musikdirektor der "Hollywood in Vienna" Filmmusik-Gala zu werden, die einmal jährlich stattfindet.
John Axelrod: Das habe ich angenommen, weil es Wien ist. Und nicht nur, weil ich eine lange Beziehung zum Wiener Radio-Sinfonieorchester habe. Ich mache es, weil ich sehr stark in diese Dritte Schule glaube. Ich bin überzeugt von dem Einfluss, den diese Musik nicht nur auf Hollywood und seinen Sound hatte, sondern auf die nachfolgenden amerikanischen Komponisten. Ich bin überzeugt von dem Einfluss, den Filmmusik auf die Entwicklung des heutigen Publikums hat.
Und ich bin absolut überzeugt davon, dass manche Filmmusik zusammen mit ernstem Repertoire in ein und dasselbe Konzert passt. Zum Beispiel habe ich gerade in Düsseldorf Korngolds "Sea Hawk Ouvertüre" in einem Programm mit Rachmaninoffs "Symphonischen Tänzen" und Barbers Violinkonzert gespielt. Ich kann auch "Der Herr der Ringe" von Howard Shore in ein Programm mit "Carmina Burana" setzen, das macht absolut Sinn. Oder Klaus Badelts "Fluch der Karibik " zusammen mit "La Mer" von Claude Debussy. Man kann doch programmliche Verbindungen herstellen, wie man will.
Aber worauf es ankommt, ist die Musik. Ist die Musik gut oder nicht? Wenn sie gut ist – spielt sie! Ist sie nicht gut – spielt sie nicht! Es liegt an jedem selbst zu entscheiden, ob eine Musik gut oder nicht, das ist subjektiv. Also die Lektion, die ich zu vermitteln versuche, ist, der Filmmusik nicht das ernsthafte Bemühen abzusprechen. Sie ist aus einem seriösen Hintergrund entstanden und hat seriöse Komponisten. Diese haben einen ernsthaften Einfluss auf die heutigen Komponisten. Die wiederum arbeiten in einem technischen Umfeld, das die Verbreitung ihrer Musik sehr viel effektiver ermöglicht, als die meiste andere Musik, die heute komponiert wird.
Komponisten und Künstler haben zu allen Zeiten Technologien benutzt, um ihre Intentionen zu verbreiten. Toscanini nutzte das Radio, um klassische Musik in die Welt zu schicken. Und niemand nannte ihn "nicht ernst". Bernstein setzte das Fernsehen für seine "Young People’s Concerts" ein, um der Welt klassische Musik näherzubringen. Vielleicht denken manche Leute, dass er da nicht ernsthaft war. Aber er hat sehr ernsthafte Anstrengungen unternommen. Wir verdanken ihm, dass er neues Leben in die Aufführung und Vermittlung von klassischer Musik gebracht hat. Und heutzutage gibt es das Internet und YouTube und Filme und alles diese Dinge, um Musik zu schreiben, sie zu kommunizieren und an die Öffentlichkeit zu verbreiten.
Und last but not least glaube ich, würde es die Filmmusik nicht geben, wäre das ein riesiger Verlust für Musik des 20. Jahrhunderts. Dass es Filmmusik gibt, ist ein größerer Vorteil als wenn es sie nicht gäbe.
musik heute: Vielen Dank für dieses Gespräch.
John Axelrod: Gern geschehen.
(Die Fragen stellte Wieland Aschinger.)