Rocksängerin Julia Neigel: "Musik ist für mich Farbenpracht" – Keine Grenzen zwischen Pop und Klassik

05. August 2011 - 10:12 Uhr

Julia Neigel ist eine der interessantesten Rocksängerinnen Deutschlands. Sie verbindet ihre ausdrucksstarke Stimme mit eingängigen und abwechslungsreichen Melodien. Als Kind klassisch ausgebildet, hat sie sich im jugendlichen Alter anspruchsvoller Rockmusik zugewandt. Im Gespräch mit "musik heute" schilderte Julia Neigel ihren Blick auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Pop und Klassik.

Coverfoto der neuen CD

Der Durchbruch ist ihr 1988 mit dem Debüt-Album "Schatten an der Wand" gelungen. Es folgten fünf weitere LPs und 2 Best-Of-Alben, die sich bis 2000 mehr als zwei Millionen Mal verkauften. In dieser Zeit sang Julia Neigel über 1000 Konzerte. Sie produziert und schreibt ihre Songs selbst. Daneben arbeitet sie auch für Kollegen wie Peter Maffay und mit Simon Phillips, David Knopfler, Edo Zanki, oder Paco de Lucia. Nach einer Kreativpause gelang ihr 2005 mit dem Live-Album "Stimme mit Flügel(n)" und einer neuen Band ein fulminantes Comeback. Kürzlich erschien ihre neue Studio-CD "Neigelneu", mit der sie momentan erfolgreich durch Deutschland tourt.

musik heute: Wie sind Sie zur Musik gekommen?

Julia Neigel: Ich wurde in Sibirien geboren. In Russland war Hausmusik üblich. Bei uns zuhause wurde oft gesungen und mein Vater spielte Akkordeon. Ich wuchs mit Musik und Singen auf. Als ich fünf Jahre alt war, gingen meine Eltern nach Deutschland. Bei einem Einschulungstest wurde nicht nur festgestellt, dass ich mich schnell integrieren würde, sondern auch, dass ich eine hohe musische Begabung besitze. Deshalb hat mich meine Mutter an der Musikschule in Ludwigshafen angemeldet.

musik heute: Welches Instrument haben Sie damals gelernt?

Julia Neigel: Blockflöten in allen Größen. Nach zwei, drei Jahre kam ich zu einer Lehrerin, die immer die besten Schüler in ihre eigenen Förderkurse in der Musikschule separiert hat. Dadurch wurde auch ich direkter gefördert und kam so bis zu den "Jugend musiziert"- Wettbewerben, bei denen ich mehrmals gewann. Das ging etwa bis zu meinem zwölften oder dreizehnten Lebensjahr.

musik heute: Wie haben Ihre Klassenkameraden darauf reagiert, dass Sie klassische Musik machen?

Julia Neigel: Also, Blockflöte wurde belächelt, ja sogar ausgelacht. Klassische Musik war sowieso nicht angesagt in meiner Schulklasse und erst recht nicht Blockflöten. Die meisten haben Sport gemacht, da war ich auch dabei. Im Handball bin ich bis zur Bundesliga gekommen. Ansonsten haben sich meine Klassenkameraden den üblichen Teenie-Aktivitäten gewidmet, "Bravo" gelesen und für die Popstars der damaligen Zeit geschwärmt. Ich übte stattdessen wie eine Wilde Vivaldi. Ich fand Klassik immer noch besser als das Schwärmen für kajalbemalte Rockstars.

Julia im Rockkonzert

musik heute: Und wie sind Sie dann zur Rockmusik gekommen?

Julia Neigel: Über die "Beatles", obwohl es die zu der Zeit gar nicht mehr gab. Ich hörte sie im Radio und war fasziniert. Die fand ich viel besser als die damals aktuellen Stars. Ich habe mich also gleich an die ernste Pop- und Rockmusik gewagt. Meine erste Platte habe ich mit elf Jahren gekauft, das war "Revolver" von den Beatles. Das ist kein leicht verdauliches Album für ein elfjähriges Mädchen. Obwohl ich kaum Englisch verstand, habe ich aber versucht, alles zu übersetzen. Besonders haben mich die Chöre fasziniert. Wie die Beatles die Chöre gesetzt haben, sowas habe ich später nie wieder gehört. Mit 11, 12, 13 habe ich mich auch schon mit "Queen" und "The Police" beschäftigt, auf diesen Geschmack sind meine Mitschüler erst mit 17, 18 gekommen.

musik heute: Was hat Ihre Musiklehrerin dazu gesagt, dass Sie sich für Rockmusik interessierten?

Julia Neigel: Sie war empört, dass ich so etwas höre. Sie hielt es für seichte und schlechte Musik. Sie war absolut dagegen und meinte, dass das den musikalischen Geist verwässern würde. Das fand ich sehr rigide, engstirnig und intolerant. Ich war als Kind schon sehr aufklärt darüber, was ich will und tun darf und was nicht. Ich bin sehr frei erzogen worden. Es hieß immer: Du darfst all das tun, was Du mit Deinen Werten vereinbaren kannst. Und für mich gab es keinen Grund, keine Pop- oder Rockmusik zu hören. Ich fand es gut und es berührte mein Herz.

"Singen geht viel tiefer"

musik heute: Irgendwann haben Sie die auch selbst gemacht?

Julia Neigel: Mit 13 habe ich in einer Punkband gesungen. Das war allerdings ganz schrecklich, denn die Band hatte keinen qualitativen Anspruch und alle hauten nur auf ihren Instrumenten rum. Mir schien damals, als ob ich es besser lassen sollte. Dann kam ich zu einer Bluesband in Ludwigshafen. Mit vierzehneinhalb Jahren gab ich mein erstes Konzert als Sängerin unter semiprofessionellen Umständen und sang Beatles Songs nach – das einzige, was ich damals beherrschte. Da stand ich auf einer Bühne vor 800 Menschen, die mich plötzlich abfeierten. An diesem Tag habe ich erkannt: Das ist es, was ich machen will: Singen.

Musikerin wollte ich ja sowieso werden. Aber zur Rock- und Popmusik hat es mich getrieben, weil ich da improvisieren und etwas Eigenes kreieren konnte. In der Klassik durfte ich dagegen nur das vortragen, was die Lehrerin vorgegeben hat. Und zwar in einer festgefahrenen Arrangement-Struktur. Da hatte ich sehr wenig Möglichkeiten mich selbst zu entfalten. In der Popmusik habe ich zwar anfangs auch nachgesungen. Aber allein das Singen bot mir schon so viel Spielraum für Interpretation, wie ich es vorher nicht gekannt hatte. Das Singen geht ja auch vom Körpergefühl her viel tiefer als ein Blasinstrument zu spielen. Zumindest war es für mich so.

musik heute: Können Sie aus Ihrer klassischen Ausbildung einen Nutzen für Ihre Rockmusik ziehen?

Julia Neigel: In jedem Fall!. Leider kann ich gar nicht mehr Notenlesen, ich habe es vergessen. Aber trotzdem habe ich durch die Klassik extrem viel für das Songschreiben gelernt, auch z.B. Musik auswendig zu können. Ich erfasse sie sofort und kann wirklich frei aus dem Stand alles mitsingen. Außerdem habe ich eine Atemtechnik durch das Blasinstrument erworben, die mir als Sängerin heute ausgesprochen hilft. Das habe ich in den 90ern noch ausgebaut, in dem ich die Zwerchfell-Belcanto-Technik gelernt habe. Die ist eigentlich für Opernsänger gedacht, hat mir aber für Tourneen sehr geholfen. Allerdings habe ich keinen Gesangsunterricht im Opernbereich genommen, denn ich wollte den Sound meiner Stimme nicht verändern.

Und schließlich kann ich alles im Kopf komponieren, ohne ein Instrument zu spielen. Ich höre das komplette Arrangement und kann es jedem vorsingen – von Bässen bis Akkorden. Vor allem entwickle ich zuerst die Melodie. Das liegt sicher daran, dass ich ein Melodieinstrument gelernt habe und ich dem immer im Kopf den Vorzug gebe. Und ich habe die Fähigkeit, tonal Chöre zu setzen, achtstimmig, alles aus dem Kopf heraus. All das habe ich sicher aus der Klassik heraus gelernt.

Julia mit Sinfonieorchester

musik heute: Was gefällt Ihnen an klassischer Musik?

Julia Neigel: Toll finde ich den klassischen hohen Anspruch an das Handwerk. Auch die musikalische Anmut und die Vielfalt der Instrumente. Deren Dynamik ebenso. Die klassischen Musiker müssen ein Studium absolvieren, dadurch gibt es einen Grundqualitätsstandard. Im Pop- und Rocksektor gibt es oftmals keine Ausbildung in dieser Art und so stößt man auch oft auf unbegabte Musiker. Viele starten als Hobbymusiker und machen das irgendwann zum Beruf. Der wirklich wahre Anspruch entsteht jedoch nur, wenn man ehrgeizig genug ist, jeden Tag lernen zu wollen und ein hohes spielerisches Niveau an den Tag legt. Trotzdem wird kein Song danach gemessen, ob der Musiker ein Studium abgelegt hat. Und ein Rockmusiker wird nicht danach bewertet, ob er in der Lage ist, alles zu spielen. Die gesunde Mischung macht’s, denke ich.

Ich finde auch die Zusammenarbeit mit klassischen Musikern faszinierend. Kürzlich war ich beispielsweise Gast bei der Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz. Da waren auch Opernsänger und die standen da mit Noten in der Hand. Die finden es faszinierend, dass ich improvisiere, dass ich ad libs an neuen Stellen singe und genau meinen Einsatz kenne und einfach ohne Proben singen kann. Andersherum fand ich es faszinierend, dass sie nach Noten singen können. Ich habe keine Ahnung, wie die das machen – und die haben keine Ahnung, wie ich das mache. Wir saßen dann zusammen in den Garderobe und fanden es total lustig, mit welchen unterschiedlichen Ansätzen jeder ans Singen geht. Man kann voneinander viel lernen, finde ich.

musik heute: Und was missfällt Ihnen im klassischen Bereich?

Julia Neigel: Der Nachteil in der Klassik ist, dass jemand, der hochbegabt ist, aber keine Ausbildung genossen hat, kaum Möglichkeiten für eine berufliche Laufbahn hätte. Es gibt zudem eine Hierarchie, die wiederum Kreativität hemmt. Viele Abläufe sind sehr bürokratisch, was in unserem Sektor komplett unwichtig ist. Natürlich gibt es im Rock- und Popsektor eigenartige, bizarre Blüten, die nur möglich sind, weil die Regeln eben nicht so wie im klassischen Verständnis sind. Aber es gibt mehr Freiheiten und man muss seinen Weg intuitiver finden. Das birgt Chancen für Andersartigkeit. Man kann sich nicht an Studien und Universitäten hochhangeln, sondern muss seinen Weg aus eigener Kraft entwickeln. Es wäre schön, wenn großen Talenten dies in der klassischen Musik auch möglich wäre.

Vielfalt in der Musik

musik heute: Wie gehen Sie generell mit Musik um?

Julia Neigel: In Bezug auf Musik bin ich ein sehr offener Mensch. Daher habe ich auf meinen Platten auch immer wieder klassische Ansätze. Das ist für mich nichts Ungewöhnliches. Der Song "Drei Wünsche frei" aus meinem neuen Album ist zum Beispiel ein Walzer wie er von Wagner sein könnte. Meine Musik zeigt eine Vielfalt wie man sie normalerweise unter Rock- und Popmusik nicht kennt. Das liegt daran, dass mich das Musikgenre bei der Auswahl nicht interessiert, sondern nur, ob es dem Song dienlich ist.

Ich empfinde mich persönlich nicht als Rockmusikerin, sondern als Musikerin. Ich bin Vokalistin, Autorin und Produzentin. Insofern ist es für mich genauso eine spannende Reise, mit einem klassischen Orchester auf der Bühne zu stehen und zu erleben, wie der Flow ist. Auch wenn diese Musiker es nicht als "Flow" bezeichnen, wir fühlen doch beide dasselbe. Ich empfinde ein Orchester wie eine Wolke, auf der ich schweben darf. Klassik ist für mich also nicht ein fremdes Genre, in das ich nicht hingehöre.

musik heute: Sie machen keine Grenzen in der Musik?

Julia Neigel: Überhaupt nicht! Ich bin als Kind aus Sibirien nach Deutschland gekommen, habe mich integriert und nie als Ausländerin oder Russlanddeutsche gefühlt. Für mich ist Musizieren immer eine Sache der Zwischenmenschlichkeit. Ich interessiere mich nicht für Regeln, sondern für Qualität. Die allein ist für mich entscheidend. Es gibt nur gute oder schlecht gemachte Musik – und sonst nichts.

Ich habe bisher zweimal mit einem Orchester gearbeitet, dem Aachener Sinfonieorchester und der Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz, und werde es hoffentlich noch oft tun. Denn das war eine wunderbare Erfahrung, wie ich sie vorher mit einer Rockband nie erlebt habe. Das ist eine Offenbarung, eine Horizonterweiterung. Dasselbe erzählen mir klassische Musiker, die noch nie mit einem Autodidakten gearbeitet haben. Für mich ist Musik Farbenpracht. Insofern sind alle Kombis erlaubt.

musik heute: "Farbenpracht" – sind Sie etwa Synästhetikerin?

Julia Neigel: Ja, tatsächlich. Ich verbinde Musik mit Farben, aber auch mit Gerüchen und Bildern, Visionen, Lebensgefühlen wie Schweben oder Fliegen. Ich sage dann so etwas wie "Es fühlt sich offen-groß an". Teilweise fühle ich mich wie in einem Film. Deswegen konnte ich vorhin erzählen, dass mich das Orchester wie auf einer Wolke schweben ließ. Da fühlte ich mich so leicht gehoben, alles war so warm und luftig.

Das sind Dinge, die ich über ein Orchester sagen kann, aber nicht, ob es ein 1A- oder ein B-Orchester wäre. Ich empfinde Musik über meine Sinne. Deswegen kann ich gar nichts mit den üblichen Normen anfangen die sich auf Noten und Hierarchien beziehen. Mein bester Indikator sind meine Sinneswahrnehmungen. Und wenn ich Visionen bekomme, dann weiß ich, dass es funktioniert. Es greift, es berührt mein Herz, es ist richtig so."

"Bilder musikalisch malen"

musik heute: Wann haben Sie Ihre Synästhesie festgestellt?

Julia Neigel: Lange Zeit habe ich das gar nicht gewusst. Die Musiker in meiner alten Band haben das immer belächelt und haben gesagt: "Jetzt redet sie wieder von rosa-blau und von irgendwelchen Gewitterwolken, die in Zeitraffer vorbeirasen." Die haben überhaupt nicht verstanden, was in mir passiert. Durch dieses Hänseleien habe ich mich lange als Zweite-Klasse-Musikerin gefühlt. Denn ich konnte nicht sagen: "Spiel bitte den Moll 7, oder so" oder diese und jene Note. Das sind aber sicher nicht die Gründe, weshalb ich später einen Urheberrechtsprozess gegen diese Leute führen musste. Die Unterdrückung in meiner damaligen Band bezog sich auch auf meine Autorenschaft als Komponistin, da ich kein Instrument spiele und die musste ich später bei Gericht korrigieren. Aber es fing eben mit solchen Intoleranzen an.

Vor drei Jahren meinte eine Freundin, ich sei wohl Synästhetikerin. Sie hatte mich oft beim Arrangieren mit meiner Band beobachtet und fand meine Beschreibungen zu meinen musikalischen Visionen außergewöhnlich. Davon hatte ich noch nie gehört. Sie gab mir ein Buch darüber, in dem ich mich komplett wiedergefunden habe. Ihr gilt mein großer Dank, dass ich meine Kreativität seither besser verstehe. Denn ich hatte zuvor immer gedacht, es sei ein Handicap, eine Behinderung. Dabei ist es eine Gabe, wie ich dann lesen konnte.

Meine jetzige Band findet diesen Ansatz faszinierend. Denn meine Wahrnehmung ist so atmosphärisch, dass sie sich dadurch auch bereichert und inspiriert fühlen. Bei denen empfinde ich es als großes Glück, eine dieser Menschen sein zu können, der mehrere Sinne mit Musik verknüpfen kann. Seitdem kann ich damit ganz anders umgehen. Ich kann Bilder musikalisch malen und ihnen meine Gabe beschreiben. Die Musik wird dadurch intensiver, weil sie meine Visionen nachfühlen können.

musik heute: Vielen Dank für das Gespräch und weiterhin viel Erfolg!

Julia Neigel: Ich bedanke mich auch.

(Die Fragen stellte Wieland Aschinger.)

http://www.julianeigel.com/

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